Hochmut, Trägheit, Völlerei – für die katholische Kirche sind das Todsünden. Warum wir trotz dieses veralteten Begriffs viel über uns selbst und unser Leben lernen, wenn wir uns mit den Todsünden beschäftigen, erklärt Professor Bernhard Grümme, der als römisch-katholischer Theologe an der Ruhr-Universität Bochum lehrt.
Professor Grümme, was ist denn eigentlich mit Todsünde gemeint: Aus Sicht der Kirche kann es doch zum Beispiel keine Todsünde sein, wenn ich mal faul auf der Couch liege, oder?
Nein, überhaupt nicht. Es ist ganz schwer, überhaupt eine Todsünde zu begehen. Die Sünden des Alltags bezeichnet die Kirche als "lässliche Sünde": Wenn ich zum Beispiel auf der Couch liege und mich nicht noch aufraffe, für meine Eltern einkaufen zu gehen. Wir werden ständig verführt, nicht das zu tun, was wir eigentlich wollen – also zum Beispiel den inneren Schweinehund zu überwinden und doch noch einkaufen zu gehen. Das ist eine lässliche Sünde: Man gibt der Faulheit nach, ohne, dass man es so richtig gewollt hat.
Und was dagegen wäre eine Todsünde?
Das bedeutet nach katholischer Lehre, dass man sein Seelenheil verspielt und sich selbst dem geistigen Tod überlässt. Das heißt, dass ich Gott verliere als Licht und die Sehnsucht meines Lebens. Also: Wenn man an sich selbst denkt und seinen eigenen Vorteil und nicht daran, wie es den Anderen dabei geht, das wäre zunächst Sünde. Todsünde würde bedeuten, dass ich mit diesen einzelnen Sünden mein ganzes Leben negativ ausrichte – und zwar aus freiem Willen. Wenn ich also entscheide: Mich interessiert niemand anders außer mir selbst, auch nicht Gott – dann ist das die Voraussetzung für eine Todsünde.
Also ist eine Todsünde ein schweres Vergehen in vollem Bewusstsein, was man tut?
Kein einzelnes Vergehen. Todsünde meint wirklich, dass ich mein ganzes Leben fundamental schlecht ausrichte. Und ich weiß genau, dass ich dabei gegen mich selbst, gegen den Anderen und gegen Gott handele. Wenn ich das nicht weiß, bin ich eigentlich nicht schuldig.
Es geht also auch um das richtige Maß. Aber wer bestimmt eigentlich, was das ist?
Hier kommt das Gewissen zum Zuge: Eigentlich weiß man selbst, was richtig und was falsch ist. Wenn ich also den ganzen Tag faul auf dem Sofa liege, habe ich selbst ein Gefühl dafür, dass mir das nicht gut tut. Traditionell glauben die Katholiken, dass Gott durch das Gewissen zu uns spricht. Natürlich spielen da auch Wissen und Erfahrung eine Rolle: Ich weiß, dass das ungesund ist und dass es besser wäre, mich zum Beispiel mit Freunden zu treffen. Natürlich gibt es aber auch einmal Situationen, in denen es berechtigt ist, zum Beispiel zornig zu sein. Die Frage ist eben, warum und in welchem Ausmaß.
Wir leben in einer modernen Gesellschaft, in der man das Gefühl hat: Der Einzelne kann machen, was er will. Welche Rolle spielt da überhaupt noch die Idee von Sünde?
Sünde ist attraktiv. Sie hat den Kitzel des Verbotenen und fasziniert dadurch die Menschen. Zum Beispiel provozierte einmal eine Bekleidungsfirma mit einem Plakat, auf dem eine Nonne einen Priester küsst. Und bei Jugendlichen spielt der Begriff Todsünde keine Rolle mehr, nur der Inhalt: Sie wollen keine Ungerechtigkeit, keinen Unfrieden, keine Unterdrückung, sondern Solidarität und Engagement. Da geht es ja genau darum, sich nicht nur für sich zu interessieren.
Ist die Beachtung der Todsünden also wie eine Anleitung für ein gutes Zusammenleben?
Eine Todsünde zu begehen, hat natürlich Auswirkungen auf die Gesellschaft, in der ich lebe. Aber im Vordergrund steht etwas anderes: Indem ich an mir selber schuldig werde – zum Beispiel, wenn ich meine Chancen nicht nutze oder mich an anderen vergehe – werde ich auch gegenüber anderen Menschen schuldig. Und die Christen glauben, dass ich Gott nur lieben kann, wenn ich den Nächsten liebe. Wenn ich den Nächsten nicht liebe, dann hasse ich Gott, entfremde mich von mir selbst und begehe eine Sünde.
Was bedeutet das: Ich entfremde mich von mir selbst?
Nehmen wir das Beispiel Trägheit: Ich entfremde mich von mir selbst, wenn ich hinter den von Gott gegebenen Möglichkeiten zurückbleibe. Also: Ich nutze nicht, was an Talenten in mir steckt. Natürlich heißt das nicht, dass man sich selbst ausbeuten oder sich ständig selbst perfektionieren soll. Es geht darum, dass jeder in sich oder im Gespräch mit anderen spüren kann, was in ihm steckt. Jeder kennt doch das Gefühl: "Das hätte ich besser machen können." Also zum Beispiel, wenn die Schulzeit vorbei ist, man sich für den Studienplatz bewirbt und dann merkt: Mit einem Notenschnitt von 3,2 kann ich nicht das machen, was ich eigentlich will – hätte ich mal nicht so viel gefaulenzt! Ich scheue mich allerdings, da von Todsünde zu reden. Es geht darum, dass man sich selber verfehlt.
Also sind die Todsünden so etwas wie ein Lebensratgeber?
Zumindest in dem Sinne, dass sie sagen: Guck Dir mal an, was passiert, wenn du das rechte Maß verlierst.
Aber wenn man sich heute die Realität von Jugendlichen ansieht mit Facebook, Deutschland sucht den Superstar oder Germany’s Next Topmodel: Ist es da nicht zu viel verlangt, nicht selbstbezogen und hochmütig zu werden?
Das ist es eben: Warum wird so gespielt mit dieser Schwäche, dieser Sucht nach Anerkennung, die ja anscheinend jeder Mensch hat? Der Punkt ist, dich auf der einen Seite stark zu machen, sodass du Angebote wie Facebook positiv nutzt, also zum Beispiel zum Austausch mit anderen. Auf der anderen Seite darf es eben nicht so werden, dass du dich gezwungen fühlst, dich darzustellen und zu schauspielern. Dann verlierst du dich am Ende selbst. Wichtig ist, dass man die Freiheit behält, selbst über sich zu bestimmen. So verliert man nicht die Kontrolle oder wird zum Spielball von eigenen Begehrlichkeiten oder denen anderer.
Aber kann der Mensch wirklich immer frei entscheiden?
Realistisch betrachtet, steht der Mensch stark unter Druck und muss sich seine Freiheit ständig neu erkämpfen. Außerdem lebt er in Zusammenhängen, aus denen er nicht herauskommt. Zum Beispiel muss ich Kleidung kaufen. Wo mache ich das? Mittlerweile gibt es Unternehmen, die damit werben, dass es bei ihnen keine Kinderarbeit gibt. Aber ob die dann den Mindestlohn zahlen? Wenn ich die Kleidung doch kaufe, ohne genau zu wissen, wie sie hergestellt wurde, nennt man das "strukturelle Sünde": Ich trage ja zur Ausbeutung zum Beispiel der Näherinnen in Bangladesch bei. Aber ich bin nicht bewusst schuldig, weil ich ja Kleidung tragen muss und mir nur eine begrenzte Auswahl bleibt, wo ich sie kaufen kann.
Im Jahr 2008 hat der Vatikan eine Liste von sieben neuen Todsünden herausgegeben. Dazu gehören Drogenhandel, Kindesmissbrauch und "andere aus Profitgier in die Armut treiben". Ist damit die alte Liste überholt?
Nein. Das ist eine moderne Erweiterung und Zuspitzung. Es geht darum zu zeigen, wo in unserer Gegenwart Felder sind, wo der Mensch sich, den Anderen und Gott verliert. Der Begriff Todsünde soll zeigen, wie schwerwiegend die Verbrechen sind. Zum Beispiel ist ein Kind zu missbrauchen ein abscheuliches Verbrechen.
Warum hat die Kirche überhaupt das Recht, eine solche Liste aufzustellen? Die katholische Kirche hat sich in ihrer Geschichte ja häufig moralisch verwerflich verhalten.
Das stimmt, vor allem beim Thema Kindesmissbrauch hat die katholische Kirche ein großes Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit. Allgemein gesprochen geht es bei dieser Frage um den Unterschied zwischen dem Aufstellen einer Norm – also einer gesellschaftlichen Regel – und ihrer Umsetzung in der Praxis. Also ist die Regel, die die Kirche aufgestellt hat, nicht mehr gültig, wenn die Kirche selbst dagegen verstößt?
Oder einfacher ausgedrückt: Wenn ihr Kirchenleute das nicht schafft, warum sollen wir das schaffen? Wichtig ist zu verstehen, dass auch die Kirche keine perfekte Gesellschaft ist. Namhafte Theologen sprechen von der "sündigen" Kirche: Es gibt also auch in der Kirche Strukturen, die Sünden hervortreiben, wie zum Beispiel Unterdrückung oder Neid. Aber derjenige, der die Sünde begeht, muss die Verantwortung dafür tragen – auch wenn er ein Vertreter der Kirche ist.
Außerdem ist die Kirche ja nur eine vorläufige Einrichtung: Die ewige Erlösung finden die Christen im Reich Gottes, nicht in der Kirche. Das heißt: Auch die Kirche selbst muss sich am Ende dem Gericht Gottes stellen.