György Ligeti liebte es zu träumen. Denn alles, was er bei Nacht erlebte, fühlte sich oft lebendiger und echter an als die Realität selbst. Zudem waren seine Träume voller bunter Farben und Formen, an die er sich oft noch Tage später erinnern konnte. Einer seiner Träume kehrte allerdings immer wieder: Ligeti träumte davon, dass sein Kinderzimmer "von einem dünnfaserigen, aber dichten und äußert verwickelten Gewebe" ausgefüllt war. Später nannte er dieses Gewebe "Spinnennetz" – das perfekte Symbolbild, um Werke wie Lux Aeterna zu beschreiben.
Lux Aeterna entstand 1966 im Auftrag der Stuttgarter Schola Cantorum, einem Chor, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ausschließlich Neue Musik aufzuführen. Bis heute gehört Ligetis Werk zu einem der berühmtesten Stücke überhaupt, weil er darin einen Sound erschuf, den es so noch nie zuvor gegeben hatte. Um zu verstehen, was diesen Sound so berühmt gemacht hat, müssen wir genau untersuchen, was Ligeti da eigentlich musikalisch gemacht hat.
Vom Gefühl der Unendlichkeit
Als Ligeti anfing, Lux Aeterna zu schreiben, wollte er eine Musik erfinden, die nach Unendlichkeit klingt. "Erweckt wird der Eindruck, dass die Musik bereits da war, als wir sie noch nicht hörten, und immer fortdauern wird, auch wenn wir sie nicht mehr hören", so Ligeti. Daher auch der Name des Stücks: Aus dem Lateinischen übersetzt steht "lux aeterna" für die Bitte nach dem ewigen Licht, was im christlichen Glauben so viel bedeutet wie nach dem Tod von Gott im Himmel willkommen geheißen werden. Doch zurück zu Ligeti: Wie schafft man es, Ewigkeit im Ohr entstehen lassen? Ganz einfach, indem man auf Ligetis liebste Kompositionsmethode setzt: die Mikropolyphonie.
Ton für Ton zum Spinnennetz
Wer schon einmal im Chor gesungen hat, weiß, dass es normalerweise vier Stimmgruppen gibt: Sopran, Alt, Tenor und Bass. Innerhalb der eigenen Stimmgruppe wird meist die gleiche Melodie gesungen, sodass am Ende ein vierstimmiger Gesang entsteht. Für Lux Aeterna verfolgte Ligeti eine andere Idee: Er beschloss, aus jeder Sängerin und jedem Sänger eine Solistin oder einen Solist zu machen, und schrieb Lux Aeterna für 16 Einzelstimmen. Das heißt: Jede Sängerin und jeder Sänger bekam seine eigene Melodie! Warum? Um sie wie eine Spinne kunstvoll miteinander zu verweben.
Alles bewegt sich, nichts steht still
Man stelle sich vor, jede der 16 Einzelstimmen wäre eine eigene Aquarellfarbe und jeder Ton ein eigener Pinseltupfer. Zum Beginn seiner Musik setzt Ligeti 16 verschieden farbige Tupfer übereinander. Was passiert? Kaum hat er den Pinsel abgesetzt, fangen die Farben an, ineinander zu laufen und sich zu einer bunten Fläche aufzulösen. Das gleiche passiert auch in unseren Ohren: Durch das sehr dichte Übereinanderschichten der einzelnen Töne – in der Musik sagt man auch Clustern dazu – lösen sie sich binnen einer Sekunde in einer gemeinsamen Klangfläche auf. Das heißt, sie sind so eng ineinander verwoben, dass sie als Einheit wahrgenommen werden.
Doch diese Fläche steht nie still. Denn im Verlauf der Musik setzt Ligeti immer wieder neue Tupfer bzw. Töne, sodass sich die Farben bzw. Klänge immer wieder neu mischen und tatsächlich ein Gefühl von Unendlichkeit entsteht. Ligeti selbst beschrieb diesen Moment des Sichverwandelns übrigens als Metamorphose, da jede Stimme vom ersten bis zum letzten Ton im Wandel ist. Nichts steht still, alles bewegt sich.
Lux Aeterna ist kein leichtes Werk. Im Gegenteil. Jeder Chor, der sich dieses Stück vornimmt, hat ein hartes Stück Arbeit vor sich.