Trauergäste gehen in Deckung. Während der Beisetzung von drei getöteten IRA-Mitgliedern im März 1988 wirft ein protestantischer Attentäter Handgrananten in die Menge
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Ende der 1980er Jahre nimmt John Hume, der Vorsitzende der Social Democratic and Labour Party (SDLP), geheime Gespräche mit Sinn Féin-Präsident Gerry Adams auf. Daraus resultiert eine gemeinsame Strategie für Frieden in Nordirland, die 1998 in ein Friedensabkommen mündet. Das 69-seitige Belfaster Abkommen, das am Karfreitag 1998 unterzeichnet wurde und daher auch Karfreitagsabkommen genannt wird, umfasst drei Bereiche: die internen nordirischen Beziehungen, die gesamtirische Dimension und das Verhältnis zwischen London und Dublin. Es wird am 22. Mai 1998 von 71,12 Prozent der Bevölkerung in Nordirland und 94,39 Prozent in der Republik Irland per Volksentscheid ratifiziert.
Nordirland erhält zum ersten Mal seit 1974 wieder ein Regionalparlament. Die 108 Abgeordneten sind für Finanzen, Wirtschaftsentwicklung, Gesundheit, Bildung, Umwelt, Landwirtschaft und Soziales zuständig. Sie stellen eine zwölfköpfige Regierung auf, in der alle Parteien gemäß dem Wahlergebnis vertreten sind. Die nordirische Exekutive richtet gemeinsam mit der Dubliner Regierung einen Nord-Süd-Rat ein, der für gesamtirische Angelegenheiten zuständig ist. Eine Kommission kümmert sich um die Reform der zu mehr als 90 Prozent aus Protestanten bestehenden Polizei. Der Anteil an Katholiken soll erhöht werden. Der Name der Polizei, "Royal Ulster Constabulary" (RUC), wird im November 2001 in "Police Service of Northern Ireland" (PSNI) geändert, das königliche Wappen wird abgeschafft. Trotz des Abkommens geht die Gewalt auf beiden Seiten weiter, wenn auch vermindert. Im August 1998 sterben bei einem Bombenanschlag der Real IRA in der nordirischen Kleinstadt Omagh 30 Menschen.
Sinn Féin-Büro in Belfast
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Im Oktober 2002 beschlagnahmt die Polizei im Belfaster Parlamentsbüro von Sinn Féin Hunderte von Geheimdokumenten mit Namen und Adressen von Politikern, Polizeibeamten und Gefängniswärtern. Die Irisch-Republikanische Armee (IRA) soll einen ihrer Männer als Boten ins Regierungsgebäude eingeschleust haben. Dort habe er über einen Zeitraum von anderthalb Jahren die Dokumente kopiert. Die britische Regierung löst daraufhin die nordirische Regionalregierung und das Belfaster Parlament auf und übernimmt wieder die Direktherrschaft. Damit kommt sie den Unionisten zuvor, die angekündigt haben, die Institutionen zu Fall zu bringen.
Der parlamentarische Geschäftsführer von Sinn Féin, Denis Donaldson, sowie zwei weitere Sinn Féin-Mitarbeiter werden wegen Spionage und Diebstahl "von Dokumenten, die für Terroristen nützlich sein können", angeklagt. Im November 2005 wird die Anklage überraschend fallengelassen. Zwei Wochen später gibt Donaldson öffentlich zu, 20 Jahre lang für die andere Seite, für den britischen Geheimdienst, gearbeitet zu haben. Was er in dieser Zeit alles verraten hat, sagt Donaldson nicht. Aufgrund seiner Position als enger Vertrauter des Sinn Féin-Präsidenten Gerry Adams dürfte die britische Regierung während des gesamten Friedensprozesses jedoch über Sinn Féins Verhandlungsstrategie informiert gewesen sein. Im Frühjahr 2006 wird Donaldson von Unbekannten ermordet. Bei dem Fall, der an einen Agentenroman erinnert, bleiben viele Fragen ungeklärt.
Bei den britischen Parlamentswahlen im Mai 2005 wählen Nordirlands Protestanten den Extremismus: Die Democratic Unionist Party (DUP) des Pfarrers Ian Paisley gewinnt neun Unterhaussitze – drei mehr als zuvor. Sie verfügt nun über die Hälfte aller nordirischen Mandate. Die gemäßigte Ulster Unionist Party (UUP), die Nordirland jahrzehntelang unangefochten regiert hat, behält lediglich einen einzigen Sitz in Westminster und versinkt in der Bedeutungslosigkeit. Parteichef David Trimble verliert sein Mandat und tritt zurück. Sein Nachfolger wird Reg Empey, der ehemalige Bürgermeister Belfasts.
Auf katholischer Seite verliert die gemäßigte Sozialdemokratische- und Arbeiterpartei (SDLP) ein Mandat an Sinn Féin, den politischen Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Sinn Féin ist auf katholischer Seite die stärkste Kraft mit nun fünf Abgeordneten im Unterhaus, die ihre Sitze aber nicht einnehmen. Doch die SDLP kann der UUP ein Mandat im vornehmlich protestantischen Süd-Belfast abjagen, weil sich UUP und DUP gegenseitig die Stimmen wegnehmen. DUP und Sinn Féin sind nun die stärksten Parteien und sollen eine Regierung bilden, wie es im Belfaster Abkommen vom Karfreitag 1998 vorgesehen ist. Paisley lehnt jedoch Verhandlungen mit Sinn Féin ab, solange die IRA ihre Waffen nicht abgegeben hat. Ende Juli 2005 gibt die IRA schließlich das Ende ihres bewaffneten Kampfes bekannt. Dennoch gelingt es den katholischen und protestantischen Parteien nicht, eine gemeinsame Regierung aufzustellen, wie es das Karfreitagsabkommen vorsieht. Daraufhin stellt die britische Regierung in London den Parteien ein Ultimatum: Sie sollen sich bis Ende 2006 auf eine Mehrparteienregierung einigen. Andernfalls werden die nordirische Regierung und das Parlament auf unabsehbare Zeit aufgelöst.
Im Oktober 2006 kommt es zum St. Andrews Agreement: Auf einer Konferenz unter Beteiligung von Regierungsvertretern aus London und Dublin einigen sich die nordirischen Parteien auf Neuwahlen als Weg zu einem neuen Parlament und einer neuen Regierung und damit zu einer Beendigung der Londoner Direktherrschaft über Nordirland.
Im selben Monat erklärt die unabhängige Entwaffnungskommission, ihrer Einschätzung nach habe die IRA dem Terrorismus abgeschworen. Auch das erleichtert einen Neustart bei der Zusammenarbeit der Parteien. Ein weiterer Schritt zur Normalisierung ist im Januar 2007 die Erklärung der katholischen Partei Sinn Féin, das protestantisch dominierte Justizsystems in Nordirland anzuerkennen, das sie und die IRA – der bewaffnete Arm der Sinn Féin - jahrzehntelang bekämpft hatten.
Am 7. März 2007 finden Parlamentswahlen in Nordirland statt. Die protestantische DUP (Democratic Unionist Party) wird mit 30,1 % die stärkste Partei, gefolgt von der katholischen Sinn Féin mit 26,2%. Im Mai wird die Regierung in Belfast vereidigt. Ministerpräsident (genannt First Minister) ist der Protestant Ian Paisley von der Partei DUP (Democratic Unionist Party), sein Stellvertreter der Katholik Martin McGuinness von der Partei Sinn Féin.
Vor diesem Hintergrund beschließt die britische Regierung in London das Ende des Nordirland-Einsatzes der britischen Armee. Die Armee ist von nun an nicht mehr für die innere Sicherheit zuständig, dies übernimmt die nordirische Polizei. Die verbleibenden 5.000 britischen Soldaten beschränken sich zukünftig auf Landesverteidigung und Auslandseinsätze.
Im Jahr 2008 tritt Ian Paisley zurück, Nachfolger wird Peter Robinson, ebenfalls DUP, Stellvertreter bleibt der Katholik Martin McGuinness. Der politische Prozess normalisiert sich.
Zugleich aber kommt es wieder zu politisch motivierter Gewalt. So werden im März 2009 in einer Kaserne in Massereene zwei britischen Soldaten erschossen, zwei weitere Soldaten und zwei Zivilisten schwer verletzt. Die katholische RIRA (Real IRA), eine Abspaltung der IRA, bekennt sich zu der Tat. Die politischen Vertreter sowohl der Protestanten als auch der Katholiken verurteilen den Anschlag scharf. Im Mai 2009 ziehen protestantische Extremisten nach dem Meisterschaftssieg des schottischen Fußballvereins Glasgow Rangers in der nordirischen Stadt Coleraine durch das Katholikenviertel und erschlagen dort einen Katholiken und verletzen seine Frau schwer.
Auf politischer Ebene wird am 5. Februar 2010 ein wichtiger Schritt getan: Mit dem Hillsborough-Abkommen geht die Verantwortung für die Justiz und Polizei in Nordirland von der britischen Zentralregierung auf die nordirische Provinzregierung über. Damit ist einer der umstrittensten Punkte des Karfreitagsabkommens von 1998 umgesetzt.
Auch die Vergangenheitsbewältigung geht voran. Im Juni 2010 entschuldigt sich der britische Premierminister David Cameron öffentlich für die Erschießung von 14 unbewaffneten Demonstranten am „Bloody Sunday“ 1972 im nordirischen Derry / Londonderry. Er bestätigt auch, dass die Demonstranten unbewaffnet waren und keinerlei Gefahr für die Soldaten darstellten. Zwei Jahre später besucht die britische Königin Elizabeth II. die nordirische Hauptstadt Belfast. Es kommt zum „historischen Handschlag“ mit dem Vize-Regierungschef Martin McGuinness, der ehemals ein führendes IRA-Mitglied war. Ein solcher Handschlag wäre wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen.
Im September 2015 kommt es zu einer Regierungskrise: Ministerpräsident (First Minister) Peter Robinson, DUP, tritt zurück. Hintergrund ist ein Koalitionsstreit zwischen der protestantischen DUP und der katholischen Sinn Féin. Zwischen beiden besteht u.a. ein Konflikt über die Kürzungen des Sozialbudgets. Es gelingt den Parteien Anfang 2016, die Krise zu überwinden. Die bisherige Finanzministerin Nordirlands, Arlene Foster von der DUP, wird Ministerpräsidentin. Sie leitet eine Einheitsregierung aus Protestanten und Katholiken. Stellvertreter ist weiterhin der Katholik Martin McGuinness von der Sinn Féin.
Aber dennoch bestehen in der Bevölkerung weiter scharfe Konflikte. Wie verhärtet die Fronten bis heute sind, das zeigen vor allem die sogenannten „Peace Lines“, die „Friedensmauern“ zwischen den katholischen und protestantischen Vierteln, etwa in Belfast. Teils sind sie 10 Meter hoch. Sie verhindern zwar Gewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen, aber einem friedlichen Zusammenleben stehen sie ebenso im Weg.
Ein weiterer ständiger Stein des Anstoßes: Jedes Jahr gibt es in Nordirland gut 2000 „Märsche“ von Protestanten. Sie feiern einen Sieg ihrer Vorfahren über die Katholiken, der drei Jahrhunderte zurückliegt. Dabei ziehen sie bewusst an Katholiken vorbei, versuchen auch, den Marsch durch katholische Viertel zu erzwingen, wollen provozieren. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt zwischen den Volksgruppen.
Auch der Alltag bleibt konfliktreich. So muss die Armee mehrfach katholische Schüler auf dem Schulweg vor protestantischen Erwachsenen schützen. Und auch von Seiten der Katholiken kommt es zu Angriffen auf protestantische Schüler. Angst, Misstrauen, ja Hass werden von Generation zu Generation weiter getragen.
Ein weiterer Konflikt entsteht im Juni 2012: der „Flaggenstreit“. Die Stadtverwaltung von Belfast beschließt, dass die britische Flagge nicht mehr wie bisher dauerhaft am Rathaus gehisst sein soll, sondern nur noch an den von der Londoner Regierung für ganz Großbritannien festgelegten Tagen. Dies soll ein Zeichen der Normalisierung sein. In Folge dieser Entscheidung kommt es immer wieder zu Krawallen radikaler Protestanten: Sie sehen darin vielmehr eine Abkehr von Großbritannien, die sie nicht akzeptieren wollen.
Der Friedensprozess in Nordirland hat begonnen, aber von einem wirklichen Frieden ist das Land noch weit entfernt.