Informationen zum Werk
Paul Whitemans List
Die Annonce in der New York Herald Tribune verkündet es im Januar 1924: George Gershwin, Komponist populärer Hits und gefeierter Musikshows, arbeitet an einem sinfonischen Werk (1). Das Stück ist für ein Konzert vorgesehen, das ein paar Wochen später am 12. Februar 1924 stattfinden soll und als „Experiment in moderner Musik“ angekündigt ist. Verantwortlich dafür zeichnet Paul Whiteman: Der gefragte und erfolgreiche Bandleader wird das Konzert mit seinem Jazz-Orchester geben, einer der versiertesten und erfolgreichsten Bands dieser Zeit.
George Gershwin weiß zu diesem Zeitpunkt nichts von der Sache. Er steht mitten in den Vorbereitungen zu einer Musikshow am Broadway. So ruft er Whiteman an und stellt ihn zur Rede.
Symphonischer Jazz
Die Idee, Elemente klassischer und populärer Musik zu verbinden und damit „symphonischen Jazz“ zu stilisieren, war nicht neu. So hatte Gershwin 1922 eine Kurz-Oper namens „Blue Monday“ geschrieben, die im Rahmen einer Broadway-Show zur Aufführung kam, gespielt von Paul Whitemans Jazz-Orchester und unter dessen Leitung. Das 30-minütige Stück führt afroamerikanischen Jazz und opernhafte Tragödie zusammen; es gilt als Vorläufer von George Gershwins berühmter Oper „Porgy and Bess“.
Doch „Blue Monday“ floppte. Einige Kritiker meinten, die tragische Handlung passe nicht zu einer Show. Eine Zeitung verriss das Stück als „den trostlosesten, dümmsten und unglaubwürdigsten Sketch, der wohl jemals verbrochen wurde. Da tötet eine schummrige Sopranistin ihren spielsüchtigen Mann. Sie hätte lieber alle ihre Kollegen erschießen und dann die Pistole auf sich selbst richten sollen“ (2). Bereits nach der ersten Aufführung wurde „Blue Monday“ aus dem Showprogramm gestrichen.
Trotz dieses Misserfolgs hegten Gershwin und Whiteman weiterhin den Plan einer JazzSymphonie. Gershwin zögerte mit der Komposition, weil er für solch eine Form komplexe musikalische Architekturmerkmale für erforderlich hielt, und dieser Aufgabe fühlte er sich noch nicht gewachsen.
Komponieren und Arrangieren im Team
Paul Whiteman weiß um Gershwins Bedenken, aber er kennt auch dessen Erfindungsreichtum und Schnelligkeit beim Komponieren. Er rät dem Komponisten zu einer Rhapsodie, zu einer freien Form also, in der sich musikalische Abschnitte lose reihen können. Gershwin lässt sich überreden, das Stück rechtzeitig fertigzustellen. (3)
Unverzüglich beginnt George Gershwin mit der Komposition Er schreibt eine Klavierfassung und überlässt, wie in der populären Musik bis heute durchaus üblich, die Orchestrierung einem Arrangeur: Ferde Grofé ist Pianist, Arrangeur und Co-Dirigent in Whitemans Orchester; er kennt die klanglichen Möglichkeiten der Band und die technischen Fähigkeiten der Musiker genau.
Gershwin und Grofé arbeiten unter enormem Zeitdruck. Am 4. Februar 1924 liegen die Noten jener Gershwin-Komposition fertig vor, die in Grofés Instrumentierung Weltruhm ernten wird: „Rhapsody in Blue“. (4)
Neuheit mit Tiefgang
Mit geschickter Öffentlichkeitsarbeit bereitet Paul Whiteman die Uraufführung vor. Einige Tage vor dem Konzert stellt er das Stück einem exklusiven Kreis von Presseleuten und hochrangigen Musikern vor. Unter den Gästen sind die Komponisten Sergej Rachmaninow und Igor Strawinsky, die Dirigenten Leopold Stokowski, Willem Mengelberg und Walter Damrosch sowie die Geigenvirtuosen Jascha Heifetz und Fritz Kreisler. (5) Die Experten zeigen sich bei dieser Vorpremiere tief beeindruckt. Die öffentliche Uraufführung findet am 12. Februar 1924 in der New Yorker Aeolian Hall statt. „Die ‚Rhapsody in Blue‘ gab dem Publikum alles, worauf es gewartet hatte“, schreibt die Musikkritikerin C. Roth: „Neuheit mit Tiefgang, Virtuosität mit Leidenschaft, Originalität mit kräftigem Traditionshintergrund“. (6)
Lincolns Geburtstag
Just am selben Tag feiern die USA den 125. Geburtstag von Abraham Lincoln, dem bedeutenden Präsidenten und einem der Väter des modernen Amerika. Das passt gut zur Rezeption der „Rhapsody“ als „Markstein in der amerikanischen Musikgeschichte“. (7) In der „Rhapsody“, geschrieben von einem jugendlichen New Yorker Komponisten mit europäischen Wurzeln, oszillieren Elemente populärer Musik der USA, des afroamerikanischen Jazz und der europäischen Kunstmusik. Ein Stück, das Genregrenzen überwindet. Das Stück sollte ursprünglich „American Rhapsody“ heißen: Es scheint, als spiegle sich hier das Selbstverständnis der USA als Schmelztiegel der Kulturen. (8)
Anspielungen
Der Werktitel weckt unterschiedliche Assoziationen:
„Rhapsodien“ nannte man in der griechischen Antike den Vortrag von Teilen homerischer Epen und von Liedern. Wandernde Sänger (Rhapsoden) rezitierten sie frei aus dem Gedächtnis. Das Fragmentarische, Improvisierte dieser mündlichen Kultur spiegelt sich in Musikstücken, die man ab dem späten 18. Jh. als Rhapsodien bezeichnete. Charakteristisch für Rhapsodien sind ab dem 19 Jh. freie Form und ungebundene Gestaltung; einzelne Teile und Fragmente können übergangslos aneinander gereiht werden. Bekannte Werke dieser Gattung stammen von Johannes Brahms (Rhapsodien op. 79 für Klavier, Altrhapsodie op. 53), Antonín Dvořák („Slawische Rhapsodien“ für Orchester op. 45) und Franz Liszt („Ungarische Rhapsodien“ für Klavier). (9)
„in Blue“: Diese Kombination erinnert an Tonartbezeichnungen bei Werken klassischer Musik (z.B. „Sinfonie in Es“, „Messe in D“). An diese traditionelle Denomination knüpfte Gershwin 1925 bei seinem „Concerto in F“ an.
„Blue“ – das lässt an „Blues“ denken, an „blues scales“ und „blue notes“, an Charakteristika afroamerikanischer Musik und des Jazz. „Blue“ steht im Titel eines anderen Gershwin-Werks, das Elemente europäischer und afroamerikanischer Musiktraditionen zusammenführt, nämlich der bereits erwähnten Kurzoper „Blue Monday“ (1922).
„Nocturne, Blue and Gold“ (10), „Symphony in Flesh Colour and Pink“ (11) „Harmony in Grey and Green“ (12): Mit solchen Kombinationen aus musikalischen Bezeichnungen und Farbwörtern betitelte der us-amerikanische Maler James Whistler (1834— 1903) etliche seiner Bilder. Ira Gershwin hatte eine Whistler- Ausstellung in New York besucht und, in Analogie zu dessen Bildertiteln, den Namen „Rhapsody in Blue“ vorgeschlagen. (13)
Dirigent Denis Matsuev über George Gershwins Rhapsody in Blue
In der Reihe "Das Starke Stück - Musiker erklären Meisterwerke" von BR Klassik schwärmt Pianist Denis Matsuev über George Gershwins "Rhapsody in Blue":