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Ottawa entschuldigt sich bei Ureinwohnern Kanadas

Regierung bedauert begangenes Unrecht - Sexueller Mißbrauch von Kindern in staatlichen Schulen


Von unserem Korrespondenten Gerd Braune


VITAWA. Die kanadische Regierung hat sich erstmals in einem offiziellen Dokument für das Unrecht entschuldigt, das den Ureinwohnern des Landes über Jahrhunderte durch die "weiße" Gesellschaft zugefügt wurde. Zentraler Punkt der Versöhnungserklärung, die den Vertretern der Indianer und Eskimos in Ottawa überreicht wurde, ist das Eingeständnis, daß indianische Kinder bis in die jüngste Vergangenheit in den vom Staat errichteten, meist von Kirchen betriebenen Internatsschulen körperlicher Gewalt bis hin zum sexuellen Mißbrauch ausgesetzt waren. All denen, die unter dieser Tragödie gelitten haben und noch leiden, sagte die Regierung; "Es tut uns zutiefst leid." So heißt es in der Erklärung, die die Ministerin für indianische Angelegenheiten, Jane Stewart, verlas. Die Regierung in Ottawa verpflichtete sich, rund 440 Millionen Mark in einen "Heilungs-Fonds" einzubringen. Damit soll unter der Kontrolle der lokalen Verwaltungen der Ureinwohnervölker ein Programm aufgebaut werden, das durch Therapie und Beratung den Opfern des sexuellen Mißbrauchs, ihren Familien und Gemeinden helfen soll, die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten.


Die Zeremonie, die von Gesang, Musik und Gebeten der Ureinwohnervölker umrahmt wurde, fand im Parlamentsgebäude in Ottawa statt. Die Erklärung (Statement of Reconciliation) war von Jane Stewart und ihrem ebenfalls für Belange der Ureinwohner zuständigen Ministerkollegen Ralph Goodale unterzeichnet worden. Stewart machte deutlich, daß das Dokument die von den Ureinwohnern so lange begehrte Entschuldigung der Regierung ist, auch wenn es, vor allem aus juristischen Gründen, nicht das Wort apology (Entschuldigung) enthält. Phil Fontaine, Chef der indianischen Versammlung der Ersten Nationen, akzeptierte das Papier als Entschuldigung und sprach vom Beginn einer neuen Ära, Vertreter anderer Ureinwohner-Organisationen rügten, das Eingeständnis der Regierung und die Zusagen für eine neue Politik gingen nicht weit genug. Nach neuen Schätzungen leben in Kanada rund 1,3 Millionen Indianer (die sich selbst First Nations nennen), Eskimos und Metis, also Nachkommen aus Ehen der ersten frankokanadischen Siedler und Pelzhändler mit Frauen aus indianischen Völkern.


Eine regierungsunabhängige Kommission hatte 1896 nach mehrjähriger Arbeit einen 3500 Seiten starken Bericht vorgelegt, der scharf mit der Indianerpolitik der Vergangenheit ins Gericht geht und mehr als 400 Vorschläge für eine Neugestaltung der Beziehungen zwischen Ureinwohnern und dem restlichen Kanada enthält. Die Versöhnungserklärung ist Teil der Regierungsantwort auf diesen Bericht. Die Internatsschulen, die Residential Schools, waren bis Anfang der sechziger Jahre das gängige Bildungssystem für Kinder der Ureinwohnervölker. Die Schulen lagen oft weit von den Siedlungen der Eltern der Kinder entfernt, und nur in den Ferien konnten die Kinder für einige Wochen in ihr Elternhaus zurückkehren. Unter Androhung und Anwendung schwerer körperlicher Strafen wurde ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. Ziel war vor allem die Zerstörung der Kultur der Indianer und Eskimos.


Quelle: Stuttgarter Zeitung, 9.1.1998


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