Der Einfall der Hunnen
Die große Völkerwanderung des 4. und 5. Jahrhunderts war eine dramatische, in ihren Dimensionen vorher nicht gekannte Migrationsbewegung in Richtung Westen, die zahlreiche germanische Völker erfasste und nach Mittel- und Westeuropa führte. Im Zuge der Völkerwanderung ging das Römische Reich unter, dessen über tausendjährige Geschichte das Schicksal der Menschen der Antike und des Frühmittelalters weit über Kontinentaleuropa hinaus bestimmt hatte.
Auslöser dieser globalen ethnischen Verschiebungen war der Angriff der Hunnen. Die Hunnen, ein schlagkräftiges, mongolisches Reitervolk aus Zentralasien, drangen 375 nach Christus völlig unerwartet über die Wolga in den Balkan ein, wo sie das einst mächtige Reich der Ostgoten in der Region der heutigen Ukraine zerstörten. Während die Ostgoten von den Hunnen unterworfen wurden, verließen die westgotischen Stämme ihre Siedlungsgebiete an der Mündung der Donau. Sie erhielten zunächst das Einverständnis des römischen Kaisers Valens, um sich auf römischem Reichsgebiet anzusiedeln und sich so in Sicherheit zu bringen. Doch bald schon führte der Migrationsdruck der vordringenden Westgoten zur offenen Auseinandersetzung mit Rom. Als die Römer die eindringenden Germanen zwei Jahre lang hinhielten und ihnen Siedlungsgebiete verweigerten, eroberten die Westgoten 378 nach Christus kurzerhand das Land mit Waffengewalt und drangen unter ihrem König Alarich weiter nach Süden vor. Im Jahr 410 belagerten und plünderten sie schließlich die Weltstadt Rom. In den folgenden Jahren zogen die Westgoten weiter und begründeten ihr Herrschaftsgebiet auf französischem und spanischem Boden, wo sie sich von der Loire bis zur Meerenge von Gibraltar niederließen.
Die aus den zentralasiatischen Steppen westwärts drängenden hunnischen Nomaden lösten einen Dominoeffekt aus. Sie trieben bei ihrem Vorstoß ganze Völkerschaften, die sich nicht unterwerfen wollten, vor sich her. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde die europäische Landkarte völlig verändert. Das mongolische Reitervolk setzte die vor ihrem Eindringen ansässigen Ethnien in Bewegung. Kelten, Germanen und Slawen gingen auf die Suche nach neuen Siedlungsgebieten. Sie gaben den Druck der Wanderungsbewegung weiter und annektierten Landstriche, die ihrerseits von den Bewohnern verlassen wurden, um sich in Sicherheit zu bringen.
So betraten die Westgoten römisches Gebiet und begannen sich dort niederzulassen. Die Vandalen, ihrerseits aus Gebieten östlich der Oder nach Gallien und Spanien vorgedrungen, wichen den einwandernden Goten hingegen nach Nordafrika aus. Dort eroberten sie unter ihrem Anführer Geiserich Karthago, damals die Kornkammer Roms, und kontrollierten somit die Getreidezufuhr nach Italien. Sie beherrschten das westliche Mittelmeer und kehrten nach Rom zurück, das sie im Jahr 455 ungehindert belagern und plündern konnten.
Neben dem Migrationsdruck benennen Historiker weitere zentrale Ursachen, die sie als Auslöser für die Völkerwanderung und die Anziehungskraft Roms ins Feld führen: Klimaverschlechterungen, Überschwemmungen (zum Beispiel an der Nordseeküste), Überbevölkerung, Hungersnöte, aber auch Kriegsfahrten und Beutezüge in die römischen Kernlande.
Während das Römische Reich, das nach Kaiser Theodosius 395 nach Christus unter seinen beiden Söhnen Arcadius und Honorius in West- und Ostrom geteilt wurde, im Niedergang begriffen war, erstarkten die germanischen Völkerschaften. Aus kleinen Stammesgruppen hatten sich allmählich Völker herausgebildet, neben den Goten zum Beispiel die Alemannen, Franken, Vandalen, Burgunder, Thüringer und Sachsen. Sie betraten römischen Boden und drangen weit von Osten nach Kontinentaleuropa, ins heutige Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien bis nach Nordafrika vor.
Die römischen Einwohner versuchten unter der Leitung fähiger Feldherren, durch wechselnde Koalitionen die vordringenden Volksgruppen gegeneinander auszuspielen. Berühmt geworden ist der römische Anführer Aetius, der mit Hilfe des gefürchteten Hunnenkönigs Attila 443 nach Christus erfolgreich gegen die Burgunder vorging. Die Burgunder, ursprünglich aus östlicher Gegend unweit vom heutigen Berlin entfernt, hatten sich in der Gegend von Worms und Mainz niedergelassen und dort ihr eigenes Reich gegründet. Nach der siegreichen Schlacht siedelte Aetius die Überlebenden der burgundischen Stämme im oberen Rhônetal an, einem Gebiet, das daraufhin ihren Namen annehmen sollte – und ihn bis heute behalten hat.
Nur wenige Jahre später rief Attila die Hunnen zu den Waffen, um Gallien zu erobern. Aetius stellte ihm ein Heer aus den römischen Bewohnern Galliens und Westgoten entgegen. 451 nach Christus kam es zur großen Schlacht auf den katalaunischen Feldern unweit von Paris: Die Hunnen wurden durch Aetius und seine germanischen Bundesgenossen vernichtend geschlagen.
Während der Vorstoß der Hunnen endgültig gebrochen war und die Reiterschaften sich nach Osten in die heutige Gegend von Ungarn zurückzogen, waren die nach Westen orientierten Migrationsströme der Germanen nicht mehr aufzuhalten. Ihre Söldnerführer hatten am weströmischen Kaiserhof längst großen Einfluss gewonnen. Schließlich rissen sie die Macht an sich. Odoaker setzte 476 nach Christus den letzten römischen Kaiser Romulus ab und ernannte sich selbst zu dessen Nachfolger. Das antike Rom war endgültig zerfallen.
Am oströmischen Hof machte sich daraufhin Theoderich, der junge König der Ostgoten, bereit, im Auftrag des oströmischen Kaisers Zenon gegen Odoaker nach Italien zu ziehen, um diesem die Herrschaft über das ehemalige Westrom zu entreißen. Theoderich hatte von Kind auf als königliche Geisel in der Obhut des oströmischen Hofes eine hervorragende Erziehung genossen und war in alle Belange der römischen Verwaltung, Politik, Kultur sowie ins Heereswesen eingeführt worden. Es gelang ihm, 493 nach Christus Odoaker zu besiegen und zu ermorden. Als vom oströmischen Kaiser ernannter Statthalter über das westliche Rom konnte er in der Folgezeit seine Herrschaft über Italien festigen. Theoderich bekam den Beinamen "der Große". Ravenna wurde sein Herrschersitz und die prächtigen Mosaikarbeiten in seinen Kirchen zeugen heute noch von der Blütezeit seiner Regentschaft. Theoderich bemühte sich um Rechtssicherheit und Interessensausgleich zwischen italischen und gotischen Bevölkerungsgruppen. Er trieb Straßenbau und Ausbau der Infrastruktur voran und tolerierte eine Vielzahl von Religionen. Sein monumentales Grabmahl in Ravenna mit der aus einem einzigen Stein bestehenden kolossalen Kuppel steht noch heute.
Als Theoderichs Tochter, Mutter des künftigen ostgotischen Herrschers, ermordet wurde, war das der Anlass für den oströmischen Kaiser Justinian einen langen Krieg gegen die Ostgoten zu beginnen. Im Jahre 553 nach Christus wurden die Goten vernichtend geschlagen, Theoderichs Reich ging unter. Unter Kaiser Justinian, der bestrebt war die römische Herrschaft über das Mittelmeer wieder herzustellen, erlebte Rom eine letzte Blütezeit. Es gelang ihm, neben den Ostgoten auch die Vandalen zu besiegen und den Westgoten den südöstlichen Zipfel Spaniens zwischen Cádiz und Córdoba zu entreißen. Doch dem Vormarsch der Langobarden wussten Justinians Nachfolger nichts entgegenzusetzen. Im Jahr 568 nach Christus drang das germanische Volk aus Pannonien (damals das Reich der Ostgoten im Gebiet des heutigen Ungarn) in Italien bis nach Rom vor. Dies war der letzte bedeutende Zug der Völkerwanderung.
Erst Karl der Große, König der Franken, besiegte die Langobarden 774 und krönte sich selbst zum langobardischen König, das Zeitalter der fränkischen Karolinger begann. Karl der Große unterwarf während seiner Regierungszeit systematisch Stammesverbände, Staaten und Reiche, die sich im Zuge der Völkerwanderung in Europa angesiedelt und niedergelassen hatten. Als er sich im Jahr 800 in Rom von Papst Leo III. zum Kaiser krönen ließ, war von den einst unabhängigen Reichen der Völkerwanderung nur noch das fränkische Reich übriggeblieben. Der europäische Kontinent bekam eine Ordnung, die bis in die Neuzeit prägend werden sollte.