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Krieg der Träume

Frieden: 1919 – 1921 | Hintergrund

Stand
Autor/in
Dirk Praller

Versailler Vertrag

Der von den alliierten Siegermächten um die „Großen Vier“ USA, Frankreich, Großbritannien und Italien ausgehandelte Versailler Vertrag beendet offiziell den Ersten Weltkrieg.

Die Sowjetunion, die nach der Machtübernahme der Bolschewisten 1918 in Brest Litowsk einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten geschlossen hatte, nimmt nicht teil; die deutsche Delegation hat nur Beobachterstatus; ihre Versuche, mildernd auf die Verhandlungen einzuwirken, scheitern. Die Verhandlungen sind von Konflikten zwischen den USA und den europäischen Großmächten geprägt, die ihre Machtstellung sichern und ausbauen wollen.

(Von links:) David Lloyd George, Vittorio Emanuele Orlando, Georges Clemenceau, Woodrow Wilson (Foto: Imago, United Archives International)
(Von links:) David Lloyd George (Großbritannien), Vittorio Emanuele Orlando (Italien), Georges Clemenceau (Frankreich) und US-Präsident Woodrow Wilson bei den Vertragsverhandlungen in Versailles 1919 Bild in Detailansicht öffnen
Mehrere Männer stehen in Uniform-Mänteln und Hüten umeinander und unterhalten sich (Foto: Imago, United Archives International)
Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten wird geschlossen, März 1918 Bild in Detailansicht öffnen

Ergebnisse und Folgen des Versailler Vertrags

So darf sich der Industrielle und Nationalist Silvio Crespi (*1868), der für Italien an den Verhandlungen teilnimmt, über Gebietsgewinne freuen (Brenner, Triest, Trentino, die Inselgruppe des Dodekanes): Seine Hoffnung auf den Gewinn der Hafenstadt Fiume (kroatisch Rijeka) erfüllt sich nicht. Als nationalistische Freischärler unter Führung des Schriftstellers Gabriele D’Annunzio die Stadt im September 1919 besetzen, reagiert die italienische Regierung zurückhaltend; nur die Faschisten um Benito Mussolini unterstützen D’Annunzio, der vollendete Tatsachen schaffen will. Im Vertrag von Rapallo (12.11. 1920) wird Fiume zum Unabhängigen Freistaat erklärt, der im Januar 1924 zwischen Italien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) geteilt wird; die Stadt fällt an Italien, der Hafen wird gemeinsam verwaltet. Crespi wird sich Mussolini annähern, der 1922 die Macht übernimmt („Marsch auf Rom“). In der Weltwirtschaftskrise 1929 gerät Crespis Firmengruppe unter Druck und muss Anfang der 1930er Jahre Konkurs anmelden.

Stadt Fiume (Foto: Imago, United Archives International)
Die italienische Stadt Fiume (heute kroatisch Rijeka) 1919 Bild in Detailansicht öffnen
Mussolini beim Marsch auf Rom, er trägt einen schwarzen Mantel und läuft in der ersten Reihe, neben und hinter ihm marschieren viele Männer in Uniform. (Foto: Imago, ZUMA/Keystone)
Der italienische Diktator Mussolini beim Marsch auf Rom, Oktober 1922 Bild in Detailansicht öffnen

Das Ergebnis der Konferenz, die nach dem Zerfall der großen Monarchien (Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland) Mittel- und Osteuropa neu ordnen muss, ist keine diplomatische Meisterleistung. Der Vertrag stellt niemanden zufrieden und trägt den Keim zukünftiger, auch kriegerischer Auseinandersetzungen in sich. Zahlreiche Länder verschwinden von der Landkarte, zahlreiche neue kommen dazu: Von den sechzehn europäischen Staaten, die 1919 zu demokratischen Republiken oder parlamentarisch kontrollierten Monarchien werden, halten sich 20 Jahre später nur in Großbritannien, Frankreich, Schweden und der Tschechoslowakei Demokratien; die übrigen Staaten in Süd-, Mittel- und Osteuropa gehen zu autoritären Staatsformen über.

Der amerikanische Kongress verweigert die Ratifizierung des Vertragswerks, die USA bleiben dem, von ihrem Präsidenten Woodrow Wilson initiierten und in Versailles gegründeten Völkerbund (Vorläufer der Vereinten Nationen - UNO) fern und gehen zu einer isolationistischen Politik über; zugleich sind alle wichtigen Kriegsparteien bei den USA verschuldet. Das wird bei der, von den USA ausgehenden Weltwirtschaftskrise 1929 massive Konsequenzen haben.

Anarchismus und Marxismus

Ho Chi Minh (Foto: Imago, United Archives International)
Ho Chi Minh (auch Nguyen Tat Thanh oder Nguyen Ai Quoc), Kommunist, vietnamesischer Revolutionär, Premierminister und Präsident der Demokratischen Republik Vietnam

Während die Mächtigen tagen, gärt in vielen Ländern der Streit der Ideologien. Die Menschen suchen nach neuen Leitbildern und Wegen für die unsichere Zukunft.

Auch in Frankreich, das – mit Blick auf den Erzfeind Deutschland - seine Machtstellung in Europa ausbaut, wächst der Unmut, die Gegensätze zwischen rechts und links verschärfen sich; die sozialistische Bewegung erstarkt, aber sie ist nicht der einzige Repräsentant linker Hoffnungen. Marie-Jeanne Picqueray (*1898) hat das Kriegsende zu einem Akt der Befreiung genutzt. Ihre neue Freiheit unter den herrschenden Umständen empfindet sie aber als Lüge, ist sie als Frau ohne Ehemann doch nahezu rechtlos. Sie hat weder Papiere, noch darf sie wählen. Aus Wut über die patriarchale Gesellschaft, in der „alte Männer“ über das Schicksal aller bestimmen, schließt sie sich in Paris einer Gruppe von Anarchisten an, die die Herrschaft von Menschen über Menschen prinzipiell ablehnen. So viele verschiedene Strömungen es innerhalb des Anarchismus auch gibt, eint sie doch alle das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft, in der Hierarchien aufgehoben sind. Die Menschen sollen sich gleichberechtigt und selbst¬ bestimmt in Kollektiven, Kommunen und Genossenschaften organisieren und nach einer Synthese aus individueller Freiheit und sozialer Verantwortung streben. Auch wenn sich ihre politischen Träume nicht verwirklichen lassen, wird May, wie sie von ihren Pariser Freunden genannt wird, ihren Idealen treu bleiben.

Von einer Zukunft, in der Unterdrückte und Rechtlose Herren ihres Schicksals werden, träumt auch Nguyen Ai Quoc (*1890), der später als Hò Chí Minh Geschichte schreiben wird. Er verfolgt die Versailler Vertragsverhandlungen aus nächster Nähe, zugleich aber distanziert. Für ihn sind die westlichen Siegermächte vor allem arrogante Kolonialherren, deren Politik gegenüber den von ihnen ausgebeuteten Ländern er analysiert. In seiner Heimat Vietnam, das zur damaligen französischen Kolonie Indochina gehört, hat er sich früh politisch engagiert. Während des Ersten Weltkriegs reiste er als Hilfsarbeiter durch Europa und die USA. Seine Suche nach einer Perspektive für den kolonialen Befreiungskampf wird ihn - nach Jahren in Paris, wo er u. a. mit kritischen Artikeln über die französische Kolonialherrschaft Aufmerksamkeit erregt und zu den Gründungsmitgliedern der französischen KP gehört - nach Moskau führen. Nach dem Studium von Lenins Schriften erhofft er sich vom Marxismus Impulse für den Unabhängigkeitskampf seines Heimatlandes.

Das „Diktat“ von Versailles und die nationalistische Propaganda

Proteste gegen den Friedensvertrag von Versailles, Berlin 1919 (Foto: Imago, United Archives International)
Proteste gegen den Friedensvertrag von Versailles, Berlin 1919 Bild in Detailansicht öffnen
Rudolf Höß (Foto: Imago, United Archives International)
Rudolf Höß, deutscher Nationalsozialist, SS-Obersturmbannführer und Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, 1947 Bild in Detailansicht öffnen

Die deutsche Delegation hat keine Wahl, sie unterzeichnet den als demütigend empfundenen Versailler Vertrag unter Protest; die umfangreichen Gebietsabtretungen (u. a. Elsass-Lothringen, Posen, West-Preußen), hohen Reparationszahlungen, Demilitarisierung und die Zuerkennung der Alleinschuld am Krieg stoßen in Deutschland auf breite gesellschaftliche Ablehnung und erweisen sich als schwere Hypothek für die neugeschaffene Republik, deren Wirtschaftskraft erheblich geschwächt ist.

Die maßgeblich von Gustav Stresemann und Walther Rathenau geprägte Außenpolitik der Weimarer Republik wird sich um eine Abschwächung der Folgen von Versailles bemühen. Rechten und revanchistischen Kreisen liefert der Vertrag Steilvorlagen für ihre nationalistische Propaganda. Für Männer wie Rudolf Höß (*1901) wirkt er auf negative Weise identitätsstiftend. Der glühende Nationalist, der im Krieg als Freiwilliger gekämpft hat, erlebt die deutsche Niederlage als Katastrophe. Er hat alles verloren, woran er geglaubt hat. Den „Schandfrieden“ von Versailles hasst er ebenso wie die Politiker, die ihn unterzeichnet haben. Nach Kriegsende schließt er sich einem der zahlreichen Freikorps’ an, in denen sich demobilisierte Soldaten sammeln, kämpft in Polen und im Baltikum gegen Gebietsabtretungen und ordnet sein Leben dem Ziel unter, Deutschland zu neuer Größe zu führen.

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Autor/in
Dirk Praller