Collage Bannerbild (Foto: SWR – Screenshot aus der Sendung)

Experiment Verwandtschaft

Vom Reptil zum Säuger | Kurs

Stand
Autor/in
Peter Bernstein

Kurs: Mängelwesen Mensch

Delphine (Foto: www.colourbox.com)
Perfekte Stromlinienform – Delphine in ihrem Element

Pfeilschnell durchpflügen die stromlinienförmigen Körper von Delphinen das Wasser, mit gewagter Akrobatik jagen Falken durch die Lüfte, Geparden hetzen an Land mit wahnwitziger Geschwindigkeit ihre Beute – die Natur steckt voller erstaunlicher Leistungen. Über lange Zeiträume hat die Evolution zu perfekten Anpassungen bei den Lebewesen geführt. Wirklich perfekt? Immer häufiger finden Wissenschaftler Beispiele für wenig optimale Lösungen, die nichtsdestotrotz funktionieren. Selten entsteht in der Evolution wirklich Neues „aus dem Nichts“, stattdessen bedient sich die Evolution bei den bereits vorhandenen Strukturen der Lebewesen und wandelt diese lieber um. So können aus Kieferknochen Teile des Ohres werden oder aus Flossen Beine und aus Beinen wieder Flossen.

Jedes Lebewesen trägt Altlasten aus seiner Stammesgeschichte mit sich herum, auch der Mensch ist da keine Ausnahme. Weil seine Luftröhre von der Speiseröhre abzweigt, läuft er immer Gefahr sich zu verschlucken – mit manchmal fatalen Folgen. Sein Rücken und seine Knie und Fußgelenke sind anfällig für Verschleißerscheinungen – ein Tribut an das aufrechte Gehen.

Im Kleinen wie im Großen lassen sich bei den Lebewesen viele Beispiele für suboptimale Anpassungen finden, die ein Ingenieur so niemals entworfen hätte. Verständlich werden diese „Fehlkonstruktionen“ aber aus der langen evolutiven Geschichte, die jedes Tier und jede Pflanze auf diesem Planeten hinter sich gebracht hat.

Perfekte Anpassungen sind oft gar nicht nötig, solange die von der Evolution gefundenen „Lösungen“ in der jeweiligen Umwelt funktionieren und sich die Lebewesen erfolgreich fortpflanzen können. Machen wir einen kleinen Streifzug durch die „Altlasten“ beim Menschen und seinen tierischen Verwandten.

Der Mensch trägt die Last seiner Geschichte

Rücken

Ansichten eines rennenden Hundeskeletts (Foto: www.colourbox.com)
Die Wirbelsäule gehört zu den am meisten belasteten Organen der Wirbeltiere
Die senkrecht stehende Wirbelsäule eines Menschen – Ursache vieler Probleme

Rückenleiden sind weit verbreitet, künstliche Knie- und Hüftprothesen müssen immer öfter unsere natürlichen Gelenke ersetzen. Auch Platt-, Senk- und Spreizfüße sind beim Menschen keine Seltenheit. Manche dieser Leiden sind unseren modischen Vorlieben geschuldet. Hochhackige enge Schuhe sind keinem Fuß auf Dauer zuträglich. Angesichts der weiten Verbreitung der genannten Leiden muss aber mehr dahinterstecken.

Der Mensch ist das einzige Säugetier, das dauerhaft auf zwei Beinen läuft. Seine Wirbelsäule befindet sich in einer senkrechten Position, was den Druck auf die Wirbelkörper und Bandscheiben erhöht. Das Gewicht seines Rumpfes, seiner Arme und des Kopfes muss allein von seinen zwei Beinen getragen werden, während es sich bei einem Hund oder einem Pferd auf vier Beine verteilt. Das alles schafft Probleme. Unsere Kniegelenke, unsere Wirbelsäule und unsere Füße sind nicht optimal an diese großen Belastungen angepasst. Der Grund liegt an der vergleichsweise jungen Entstehung der Zweibeinigkeit. Unsere Vorfahren waren vierfüßig unterwegs, wie bei Landwirbeltieren gemeinhin üblich. Erst vor vielleicht drei Millionen Jahren richteten sich die Vorfahren des Menschen auf, um auf zwei Beinen durch die Welt zu gehen – und damit die Hände für andere Dinge frei zu haben.

Nun sind drei Millionen Jahre eine lange Zeit. Für die Evolution aber, die über lange Zeiträume und über viele Generationen ihre Wirkung entfaltet, ist diese Zeitspanne relativ kurz. Wir laufen schlicht noch nicht lange genug aufrecht herum, um eine bessere Anpassung unseres Skeletts erreicht zu haben. Unsere moderne Arbeitswelt schafft noch zusätzliche Probleme, denn unser Körper ist für das stundenlange Sitzen im Büro nicht gemacht.

Darmtrakt und Lungenapparat

Grafik des menschlichen Kehlkopfbereichs mit den Wegen von Luft und Nahrung (Foto: SWR)
Wo Luft und Nahrung zusammenkommen, kann es schon mal eng werden

→ Würde man einen Ingenieur mit dem Entwurf eines Darmtraktes und eines Lungenapparates beauftragen, käme er sicher nicht auf die Idee, für beide Systeme einen gemeinsamen Eingang zu entwickeln. Und doch ist genau dies die Situation, mit der wir klar kommen müssen. Nahrung und Atemluft legen einen Teil ihres Weges in den Körper auf einer gemeinsamen Strecke zurück. Schluckt man Nahrung hinunter, muss der Lungeneingang verschlossen werden, atmet man ein, muss der Zugang zur Speiseröhre geschlossen sein. Da kann schon mal was schiefgehen und man verschluckt sich.

Verständlich wird diese Konstruktion nur aus der evolutionären Geschichte der Lungen. Ursprünglich atmeten unsere fischartigen Vorfahren mit Kiemen. Die Kiemenspalten entstanden aus Öffnungen im vorderen Darmbereich. Auch die Lungen haben ihren Ursprung in dieser Region. Sie entstanden als Aussackungen des Vorderdarmabschnitts, der unserer Speiseröhre entspricht, und sind bis heute mit ihm verbunden.

Auch die Skelettelemente der Kiemenbögen unserer fischartigen Ahnen wurden „wiederverwendet“. Sie bilden bei uns, in abgewandelter Form, Teile unseres Kehlkopfes.

Gebiss

Das aufgesperrte Gebiss eines Menschen (Foto: www.colourbox.com)
Zahnärzte leben von so manchem evolutionären Mangel

→ Unser Gebiss kommt mit den Anforderungen des zivilisierten Lebens nur bedingt zurecht. Die menschlichen Eckzähne sind stark verkleinert im Vergleich zu denen eines Schimpansen oder Gorillas. Das ist nicht weiter schlimm, da wir uns in der Regel auch nicht durch Beißen verteidigen müssen. Problematisch ist aber, dass unsere Zähne zu wenig Platz in den Kauleisten haben. Die Stärke des Kieferknochens ist abhängig von der Belastung. Ernährt man sich ausschließlich von relativ weicher Nahrung, wie es üblich ist in den Industrieländern, bleiben die Kiefer recht schwach entwickelt. Zahnfehlstellungen sind die Folge, weil die Zähne schlicht zu wenig Platz haben.

Auch unsere Weisheitszähne, die hintersten Backenzähne also, gehören zu den evolutionären Überbleibseln aus unserer Stammesgeschichte. Bereits bei unseren Urmenschenvorfahren ist der Trend zu einer Zahnreduktion deutlich zu erkennen. Die Schnauzenregion wird im Lauf der Evolution immer kleiner. In unseren Kiefern haben die Weisheitszähne oft kaum noch Platz, um ganz durchzubrechen. Eine Verschiebung der Zähne kann die Folge sein, die oft genug den Gang zum Zahnarzt unvermeidlich macht.

Auge

Großaufnahme eines menschlichen Auges (Foto: www.colourbox.com)
Das menschliche Auge – trotz aller Mängel ein Wunder der Evolution

→ Das Auge des Menschen – das komplizierte Organ gilt als Wunderwerk der Evolution. Den Kreationisten dagegen gilt es als Beweis gegen die Evolution, denn ein solch komplexes und perfektes Organ könne nicht durch Zufall entstanden sein.

Von Perfektion kann bei unserem Auge jedoch nicht die Rede sein. Wie bei allen Wirbeltieren liegen die lichtempfindlichen Schichten unseres Auges eigentlich falsch herum. Die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut liegen vom Licht abgewandt. Das Licht muss erst durch mehrere Zellschichten hindurch, bis es auf die eigentlichen Sinneszellen trifft. Auch die von der Netzhaut abgehenden Nervenfasern ziehen zunächst nach außen, bevor sie gebündelt an einer bestimmten Stelle durch die Netzhaut stoßen und in Richtung Gehirn ziehen. An dieser Stelle liegt der Blinde Fleck, an dem wir nichts sehen.

Dass es auch anders geht, beweisen die Augen unserer tierischen Verwandten aus dem Reich der Wirbellosen. Bei Tintenfischen zum Beispiel sind die Sinneszellen der Augen dem Licht zugewandt. Deren Nervenfasern ziehen direkt nach innen zum Gehirn, einen blinden Fleck gibt es nicht. Doch deren Augen sind innerhalb der Evolution aus einer Hauteinstülpung von außen entstanden. Die Augen der Wirbeltiere dagegen haben ihren Ursprung in einer Ausstülpung des Gehirns, kommen also von innen. Unterschiedliche Wege also und unterschiedliche Bauarten, die zu einer ähnlichen Lösung geführt haben – auch Tintenfische sehen sehr gut.

Kreationisten

Kreationisten

Vitamin C

Organgen. (Foto: www.colourbox.com)
Orangen – eine gute Quelle für Vitamin C

→ Schon in unserer Kindheit wird uns eingetrichtert, wir sollten genügend Vitamine essen. Besonders das Vitamin C soll uns helfen, unser Immunsystem gegen alle möglichen Krankheiten zu wappnen. Während unser Körper etliche Vitamine selbst herstellen kann, müssen wir Vitamin C mit der Nahrung aufnehmen. Es ist vor allem in zahlreichen Obstsorten vorhanden, aber auch in Sauerkraut oder in Paprika-Gemüse.

Die meisten Säugetiere, zu denen der Mensch gehört, können das benötigte Vitamin C selbst herstellen, warum kann es ausgerechnet der Mensch nicht? Die Gene für den Biosyntheseapparat für Vitamin C tragen beim Menschen eine Mutation, die die Vitamin C-Herstellung unmöglich macht. Auch nahe Verwandte des Menschen, die Schimpansen, Gorillas und einige andere Affen, tragen die gleiche Mutation in ihren Genen und können kein Vitamin C herstellen. Offensichtlich erschien die Mutation zu einem Zeitpunkt der Evolution, an dem sich die Primaten noch nicht in Menschen und Menschenaffen aufgetrennt hatten.

Meerschweinchen können ebenfalls kein Vitamin C selbst herstellen, obwohl sie mit den Primaten nicht näher verwandt sind. Auch bei ihnen ist eine Mutation in ihrem Genmaterial dafür verantwortlich, doch liegt die Mutation bei ihnen an einer anderen Position als bei den betroffenen Primaten.

Atmung

Porträt eines Weißkopfseeadlers (Foto: www.colourbox.com)
Vögel besitzen die effektivste Atmung aller Wirbeltiere

→ Der Mensch füllt bei der Atmung wie alle Säugetiere seine sackartigen Lungen mit Luft und drückt diese beim Ausatmen wieder hinaus. Bei seiner Lunge handelt es sich um eine Sackgasse. Die eingeatmete Luft muss auf demselben Weg hinaus wie sie hineingekommen ist. Anatomisch bedingt kann dabei niemals die gesamte Luftmenge getauscht werden, ein Teil der verbrauchten Luft bleibt in der Lunge zurück.

Ideal ist diese Situation für ein warmblütiges Säugetier mit hohem Sauerstoffverbrauch nicht. Eine andere warmblütige Tiergruppe hat ein effizienteres Atmungssystem entwickelt – die Vögel. Bei ihnen bleibt das Volumen der Lunge bei der Atmung nahezu konstant. Stattdessen wird die Atemluft in mit der Lunge verbundene Luftsäcke gesaugt, aus denen die Luft wieder herausgedrückt wird. Frische Atemluft kann sowohl beim Ein- wie auch beim Ausatmen die Lungenfläche passieren und ein Gasaustausch stattfinden. Die Atmung ist daher viel effizienter als bei Säugetieren.

Nervensystem

→ Das Nervensystem verbindet die Organe unseres Körpers, leitet Reize weiter und Befehle vom Gehirn zu den Organen. Die Leitungsgeschwindigkeit im Nervensystem ist zwar hoch (bis zu 100 m/s), aber nicht zu vergleichen mit der Leitungsgeschwindigkeit von elektrischen Leitungen, in denen sich Spannungsimpulse nahezu mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten.

Grafik der idealen Lage des Kehlkopfnervs der Giraffe (Foto: www.colourbox.com, Collage SWR)
Die kürzeste Verbindung zwischen Kehlkopf und Gehirn Bild in Detailansicht öffnen
Grafik der realen Lage des Kehlkopfnervs der Giraffe (Foto: www.colourbox.com, Collage SWR)
Die reale Situation (gelb: Kehlkopfnerv, rot: Herz mit Blutgefäßen) Bild in Detailansicht öffnen

Es ist also sinnvoll, Verbindungen zwischen dem Gehirn und den entsprechenden Zielorganen möglichst kurz zu halten. Meist ist das auch so. Eine Ausnahme bildet der Kehlkopfnerv. Eigentlich ist die Distanz vom Gehirn zum Kehlkopf nicht allzu groß. Der vom Gehirn kommende Nerv zieht allerdings nicht direkt zum Kehlkopf, sondern zunächst weiter nach unten, zieht um den über dem Herzen liegenden Aortenbogen herum und dann wieder nach oben in Richtung Kehlkopf.

Der Kehlkopfnerv macht diese Schleife bei allen Säugetieren, selbst bei denen, die einen verlängerten Hals haben. Bei der Giraffe führt dies zu einem äußerst kuriosen Verlauf des Nervs. Statt der erforderlichen Länge von vielleicht 20-30 cm bei einer Direktverbindung von Gehirn und Kehlkopf, dehnt sich die Länge des Nervs auf mehrere Meter aus. Der Kehlkopf sitzt unter dem Kopf der Giraffe in luftiger Höhe, während der Aortenbogen sich im Rumpfbereich befindet.

Grafik der Kiemenbogengefäße und –nerve n eines Fisches (Foto: www.colourbox.com, Collage SWR)
Bei Fischen ist die Distanz der Nerven zu den Kiemen gering (gelb: Kiemennerven, rot: Herz und Kiemenbogengefäße)

Wie ist dieser kuriose Verlauf des Kehlkopfnervs zu erklären? Ein Ingenieur wäre in diesem Fall in schwerer Erklärungsnot. Ein Evolutionsbiologe kann dagegen auf die Stammesgeschichte der Wirbeltiere verweisen. Unsere fischartigen Verwandten hatten keinen Kehlkopf und keinen Hals. Allerdings besaßen sie bereits die Vorläufer der Kehlkopfnerven, die bei ihnen eine ganz andere Aufgabe hatten. Sie leiteten Nervenimpulse vom Kopf zum benachbarten Kiemenapparat und zurück. In ihrem Verlauf zogen sie auch um Blutgefäße herum. Kein Problem bei den kurzen Distanzen in diesem Bereich.

Als bei den Landwirbeltieren der Kiemenapparat nicht mehr benötigt wurde, blieben trotzdem einige seiner Elemente erhalten, wenn auch in ganz anderer Funktion. So bildeten sich einige knorpelige Kiemenbogenelemente zu Bestandteilen unseres Kehlkopfes um. Auch ein Teil der Kiemennerven blieb erhalten. Statt zum Kiemenapparat zu ziehen, versorgten sie nun den Kehlkopfbereich. Aber die Landwirbeltiere haben einen Hals entwickelt, und dadurch einen gewissen Abstand vom Kopf zum Rumpf. Aus den Kiemenbogengefäßen wurden Aortenbogen, Lungenarterien und andere Gefäße.

Die Kiemenbogennerven, aus denen sich der Kehlkopfnerv entwickelte, zogen um die Kiemenbogengefäße, aus denen der Aortenbogen wurde. Der Nerv blieb seiner alten Verlaufsrichtung also treu, nur dass inzwischen ein großer Abstand zwischen dem Kehlkopf und dem Aortenbogen entstanden war. Daher nimmt der Kehlkopfnerv noch heute einen unnötig langgezogenen Verlauf, auch wenn er nach wie vor seinen Zweck erfüllt.

Hinterbeine beim Wal?

Auftauchender Buckelwal (Foto: colourbox)
Kann seine Herkunft von Landtieren nicht ganz verbergen – ein Wal

→ Wale und Delphine sind gut an das Leben im Meer angepasst. Ihre stromlinienförmigen Körper sind ideal dazu geeignet, sich mit möglichst geringem Energieaufwand im nassen Element zu bewegen. Ihre Antriebskraft stammt vor allem aus der Schwanzflosse, die Rücken- und Brustflossen dienen der Stabilisierung. Warum besitzen Wale im hinteren Körperabschnitt, tief im Gewebe verborgen, Reste von Becken und Hinterextremitäten? Und warum bilden die Embryonen von Delphinen deutlich sichtbar Knospen von Hinterextremitäten aus, die später zurückentwickelt werden? Was hätte ein intelligenter Designer damit bezweckt?

Die Antwort der Evolutionsbiologie darauf ist einfach. Wale und Delphine stammen von landlebenden vierfüßigen Wirbeltieren ab. In ihrer Stammesgeschichte haben sie sich immer stärker den Bedingungen des Wasserlebens angepasst – aus Beinen wurden Flossen. Im Wasser nicht benötigte Organe wurden nach und nach reduziert. Hat man eine schlagkräftige Schwanzflosse, so sind Hinterbeine im Wasser nicht vonnöten, sie verschwanden im Lauf der Evolution der Wale. Die heute am Skelett noch sichtbaren Reste der Hinterextremitäten sind eine Erinnerung an die evolutionäre Herkunft der Wale. Vermutlich verschwinden sie in der zukünftigen Evolutionsgeschichte der Wale und Delphine vollständig, wenn sie nicht einem uns bisher unbekannten Zweck dienen.

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Peter Bernstein