Warten auf Drehgenehmigung
Wie kommt ein westdeutsches Fernsehteam an eine Genehmigung, um in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) einen Film über Wahlen drehen zu dürfen? 1985 richten wir eine Anfrage an das DDR-Außenministerium und erhalten nach einiger Wartezeit eine Einladung zu einem Gespräch in Ost-Berlin. Wir erfahren, dass wir unser Vorhaben schriftlich und detailiert einreichen sollen.

Vorbereitungen
Wir studieren das Wahlgesetz der DDR, wir machen uns kundig über die Volkskammer, dem Parlament der DDR, wir beschaffen uns Informationen über Parteien und Massenorganisationen, die Abgeordnete in das Parlament entsenden. Unsere so erworbenen Kenntnisse bauen wir in einen Drehplan ein, den wir nach Ost-Berlin schicken.
Gewünschter Drehort und gewünschte Kandidaten
Wir wollten in Magdeburg drehen. Die Industriestadt schien uns geeignet, weil wir dort auf Persönlichkeiten zu treffen hofften, die als Abgeordnete bzw. Kandidaten vor der westlichen Kamera Rede und Antwort stehen könnten. Da waren der weltweit bekannte Radrennfahrer Gustav Adolf (Täve) Schur, die Direktorin eines Bekleidungswerkes und ein junger Facharbeiter aus einem großen Maschinenbaubetrieb.
Die Entscheidung
Anfang April 1986 geht die Drehgenehmigung ein. Wir reisen zur Recherche nach Magdeburg. Wir treffen einen freundlichen Herrn, der uns als Betreuer beigegeben ist. Wir erfahren, dass der Drehort Wernigerode sein wird, und dass die von uns gewünschten Kandidaten nicht zur Verfügung stehen. Uns wird versichert, dass wir in Wernigerode auf einen Mann treffen werden, der unsere Erwartungen erfüllen wird.
Lebensgefühl


Geruhsamkeit
Der Besucher aus dem Westen hörte beim Gang durch die Stadt das Tuckern die Zweitaktmotoren der Trabis und Wartburgs, roch die Abgase der Braunkohleheizung. Typisches eines Landes konnte mit solch einfachen Sinneswahrnehmungen erkannt werden. Es schien, als geschähen alle Bewegungsabläufe leicht verlangsamt. Vor manchen Geschäften warteten geduldig Menschen. Bei genauerem Hinschauen konnte erzwungene Geduld bemerkt werden, die Gesichter waren eher mürrisch denn heiter-gelassen. Am hellen Vormittag streiften Menschen in Arbeitskleidung durch die Stadt, erledigten Einkäufe. Wer damit bis zum Arbeitsschluss wartete, fand die Regale mit den besonderen Waren meist leer. Die Geruhsamkeit war eine scheinbare, eine erzwungene.
Hilfsbereitschaft
Konkurrenz, Neid und Missgunst, sie schienen in der DDR kaum vorzukommen. Die Probleme des Alltags, hauptsächlich durch Versorgungsengpässe hervorgerufen, trafen jeden Normalbürger. Der allgegenwärtige Mangel schuf soziale Nähe. Man half sich gegenseitig und wusste, dass es sich um eine verlässliche Größe handelte, mit deren Hilfe manches kaum lösbare Problem doch zu lösen war. Hier war es ein Ersatzteil, das der Nachbar bereithielt, dort eine Handreichung, mit der die Reparatur in der Wohnung rascher erledigt wurde als von schwer zu findenden Handwerkern.
Nischengesellschaft
In jeder Gesellschaft schaffen Menschen sich Nischen, Refugien für den zeitweisen Rückzug aus der Gesellschaft. Je stärker die Inanspruchnahme des Individuums durch den Staat oder die Gesellschaft ist, desto notwendiger werden staats- und gesellschaftsfreie Räume. In der DDR waren es die Familie, der engste Freundeskreis, manchmal auch das Arbeitskollektiv, häufig der Kleingarten mit der einfachen Datsche, das Auto als Hobby. Es waren Räume, innerhalb derer keine Verstellung notwendig war, dort wurde Meinung geäußert, Klartext geredet. Im öffentlichen Bereich war man gut beraten, Äußerungen mit Vor- und Umsicht zu tun. Hier konnte man die Differenz zwischen öffentlich genutzter und privat geprägter Sprache erfahren.
Lebensstrategien unter autoritären Strukturen

Das politische System der DDR stand unter dem Motto „sozialistische Demokratie“. Damit war gemeint, mittels einer höheren Stufe der Demokratie die als bürgerlich bezeichnete parlamentarische Demokratie zu überwinden. Sozialistische Demokratie sollte die Verwirklichung der im Marxismus-Leninismus festgeschriebenen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und der Geschichte sein. Wo wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten behauptet werden, hat Opposition als legaler Bestandteil des politischen Systems keinen Platz. Solcherart politisches System war mit einem Wahrheitsanspruch der führenden Partei, hier der SED, ausgestattet und verlangte von den Menschen Ein- und Unterordnung. Wer sich dagegen auflehnte, musste mit Sanktionen rechnen bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung.
Eine „Als-ob-Gesellschaft“?
Solche Erfahrungen prägten Lebensstrategien aus, die in parlamentarisch-demokratisch verfassten Gesellschaften kaum oder gar nicht gebraucht werden. Nicht jedem ist die Kraft zum Widerstand gegeben. Märtyrer haben keine lange Lebenserwartung. Opportunismus wird in autoritär verfassten Gesellschaften enorm gefördert, darin liegt ihre Schwäche begründet. Die Herrschenden misstrauen den Beherrschten, diese wiederum suchen den Weg, den sie ohne all zu große Verkrümmung ihres Rückgrades gehen können. Das Ergebnis ist eine „Als-ob-Gesellschaft“, viele tun so, als ob sie die offizielle Doktrin aus vollem Herzen mittragen. Wer nie unter solchen Bedingungen leben musste, sollte mit der Vergabe des Titels Opportunist vorsichtig sein.
Als im Sommer und Herbst 1989 für viele DDR-Bürger das Maß der Erniedrigung voll war und mit der Losung „Wir sind das Volk“ auch die Als-ob-Haltung aufgegeben wurde, musste eine neue Lebensstrategie gefunden werden. Die alte, lange eingeübte ist unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen weitgehend wertlos geworden, die neuen müssen mühsam erlernt werden.
„Das ferne Land DDR“

Als es sie noch gab, die Deutsche Demokratische Republik, war sie für viele Westdeutsche ein fernes Land in mehrfacher Hinsicht: Der Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland benötigte eine Eintrittskarte in Form einer Einreisegenehmigung, er musste Eintritt bezahlen, für jeden Tag 25 DM und bekam dafür 25 DDR-Mark, er betrat ein Land, dessen äußere Erscheinung an vielen Orten an farblose Zeiten unmittelbar nach Kriegsende erinnerte, auf den Straßen kamen ihm Menschen entgegen, die bedrückt schienen, er verstand das Zeitungsdeutsch nicht, er nahm befremdliche Gerüche und Geräusche wahr, er fühlte sich fremd. Er gehörte einer westdeutschen Minderheit namens DDR-Besucher an.
Grenze
Für DDR-Bürger war die Grenze das gestaltgewordene Misstrauen der Staatsführung ihnen gegenüber. Sie schmerzte, deshalb wurde wenig über sie gesprochen. Im Mai 1952 wurde aus der Demarkationslinie zwischen den beiden deutschen Staaten die Staatsgrenze West. Aus einem fünf Kilometer tiefen Sperrgebiet wurden in einer Aktion mit Namen „Ungeziefer“ Tausende Menschen zwangsumgesiedelt. Ein Spurensicherungsstreifen vor Stacheldrahtverhauen sollte den illegalen Übertritt in den Westen verhindern. Bewaffnete Soldaten kontrollierten Grenzabschnitte zu Fuß oder von Wachtürmen aus. Am 13. August 1961 wurde mit Errichtung der Mauer in Berlin auch die Grenze zur BRD weiter ausgebaut. Die Flucht über die Grenze haben zahlreiche Menschen mit ihrem Leben bezahlen müssen – die Zahl der Getöteten ist bis heute nicht bekannt.