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Französische Literatur

Albert Camus "Les Justes" | Hintergrund

STAND
Autor/in
Leonore Zwölfer

"Les Justes" und "L‘homme révolté"

Titel Camus (Foto: SWR - Screenshot aus der Sendung)
Albert Camus SWR - Screenshot aus der Sendung

"Les Justes" wurde 1949 aufgeführt. Die Arbeit daran verlief parallel zur Entstehung des wichtigen Essays "L‘homme révolté". Man könnte das Stück quasi als dramatische Entfaltung der im "homme Révolté" entwickelten Ideen und Positionen verstehen. So ist auch ein Kapitel daraus unter dem Titel "Les meurtriers délicats" den russischen Revolutionären von 1905 gewidmet, die die Figuren von "Les Justes" abgaben. Die in der Sendung dargestellten historischen Ereignisse (Minute 07:33-08:35) stellen sozusagen einen Glücksfall für Camus dar. An ihnen konnte er zentrale Gedanken des Essays über die Spannung zwischen dem "esprit de révolte" und seiner Umsetzung in die revolutionäre Tat veranschaulichen. Konkreter gesagt: es war ihm möglich, an diesem gelebten Beispiel unmittelbar, ohne Eingriffe in den historischen Stoff, seine Vorstellungen zu der Frage, ob und unter welchen Umständen Gewalt als Mittel zur Veränderung politischer Verhältnisse, zur Durchsetzung von mehr sozialer Gerechtigkeit erlaubt sei, szenisch zu entwickeln.

Auch wenn "Les Justes" ein Theatererfolg gewesen ist, werden darin eben jene Positionen illustriert, die anlässlich der Publikation von "L‘homme révolté" so heftige und gegensätzliche Reaktionen im französischen intellektuellen Milieu hervorgerufen haben. Der Essay löste bekanntlich den Streit und Bruch zwischen Camus und der Linken aus, insbesondere mit Sartre und Simone de Beauvoir, und trug seinem Autor den falschen Beifall aus der rechten politischen Ecke ein. Er leitete den Anfang jener Entwicklung ein, an deren Ende Camus nach seiner gescheiterten Vermittlerposition im Algerienkrieg vollends zwischen alle Fronten geraten war. In der politischen Öffentlichkeit geschmäht und diskreditiert, wandte er sich getroffen und vereinsamt in seinen letzten Lebensjahren wieder, wie in den Jahren seiner künstlerischen Anfänge, intensiv seiner Theaterarbeit zu.

Heute erscheint die Position Camus‘ unter manchen Aspekten luzider als die Sartres. Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob Camus‘ humanistische, griechisch beeinflusste Ehrfurcht vor dem Individuum "weltfremd" oder gar "apolitisch" ist. Seine Skepsis gegenüber Revolutionsbewegungen, die "über Leichen gehen" und Einzelne zuAbertausenden opfern zugunsten abstrakter Gesellschaftsentwürfe von einer gerechten zukünftigen Welt, ist auch unter dem Eindruck des stalinistischen Terrors entstanden und zeugt eher von Realitätsbezug.

Aus alldem geht hervor, dass "Les Justes" in erster Linie ein "Ideendrama" ist. Mag es auch in den pathetischen Formulierungen und in der Langatmigkeit der Auseinandersetzungen schon etwas veraltet erscheinen, so erhält es doch seine Lebendigkeit durch die Dringlichkeit, mit der hier die Frage "La fin justifie-t-elle les moyens?" gestellt wird, und durch die Tatsache, dass diejenigen, die sie gestellt haben, auch gelebt haben und für ihre Überzeugung gestorben sind. Gerade Schüler sind für ideelle Auseinandersetzungen sehr offen, an Aktualität hat die Fragestellung nichts verloren.

Hinweise zur Interpretation von "Les Justes"

Dialog Dora-Kaliayev (Foto: SWR - Screenshot aus der Sendung)
"Les Justes", Dora – Yanek Kaliaev SWR - Screenshot aus der Sendung Bild in Detailansicht öffnen
"Les Justes", Dora - Stepan Fedorov SWR - Screenshot aus der Sendung Bild in Detailansicht öffnen

Wie im "homme révolté" finden sich in "Les Justes" Spuren von Camus‘ Suche nach der Stellung des Menschen im Spannungsfeld zwischen Natur und Geschichte. Stark vereinfacht gesagt: Aus der Teilhabe des Menschen an der Natur leitet Camus die Ehrfurcht der Natur im Menschen ab (in sich selbst und in Anderen) und das Recht und den Anspruch des Individuums auf Glück; aus der Teilhabe an der Geschichte ergibt sich seine gesellschaftliche Verantwortung. Die Revolte gegen die "absurdité", die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz und den Tod bleibt bei Camus nicht im Nihilismus stecken; sie wird ihrerseits zu einer Wertvorstellung. "Je me révolte, donc nous sommes" heißt es im "homme révolté", in Abwandlung des Descartes-Wortes "Je pense, donc je suis". Und: "Nous devons alors trouver en nous-mêmes, au coeur de notre expérience…. les valeurs dont nous avons besoin." (L’homme révolté).

Einer dieser essentielle Werte ist eben der "respect de l’homme", ein anderer die "solidarité". Durch die Revolte und die Analyse seiner Situation in der Revolte tritt das Individuum aus seiner Einsamkeit in eine "communauté". Sie ist auch "solidarité contre la mort". Die ist die Position, die Camus immer wieder seit "La Peste" in seinem Werk vertritt.
In jeder Revolution aber, die Gewalt und Mord notwendig macht, treten die beiden Werte in einen tragischen Widerspruch zueinander. Dem Menschen ist es einerseits aufgegeben, gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen, andererseits stellt der Mord für Camus "une limite" dar, andernfalls drohen aus den "justes" "bourreaux" zu werden. Mord verstößt nicht nur gegen den "respect de l’homme", sondern stellt das Wesen der Revolte selbst als Verrat an der Solidarität gegen den Tod in Frage. "En logique on doit répondre que meurtre et révolte sont contradictoires." (L’homme révolté).

Wenn es in einer bestimmten historischen Situation notwendig wird zu töten, lädt der Mörder Schuld auf sich. Es gibt nur eine Möglichkeit, sie zu tilgen: das Opfer des eigenen Lebens. "Le révolté n’a qu’une manière de se réconcilier avec son acte meurtrier s’il s’y est laissé porter: accepter sa propre mort et le sacrifice. Il tue et meurt pour qu’il soit clair que le meurtre est impossible". (L’homme révolté) . Eben diese Anschauung fand Camus bei den russischen Revolutionären von 1905 vor. Er musste sie nur als Persönlichkeiten ausgestalten, um sie zum Sprachohr der eigenen Vorstellungen zu machen.

Dieses klare Verdikt des politischen Mordes stellt für Camus auch eine Entscheidung für das Leben, für den Einzelnen, für die Gegenwart dar. In "L’homme révolté" warf er der Linken (und damit auch Sartre) vor, dass Leben und Tod ihnen zu bloßen Abstraktionen verkommen seien, dass sie den Menschen und die Gegenwart zugunsten einer sogenannten "gerechten Sache", einer absolut gesetzten Zukunftsvision von einer besseren Welt opferten. Dora sagt in "Les Justes": "Les autres, nos petits enfants … Ah! Boria, et si les autres ne vivaient pas? Et s’il mourait pour rien?" (V. Akt)
Camus stellte dem "révolté" den "révolutionnaire" gegenüber: "Le révolutionnaire, c‘est l’homme assoiffé de puissance qui se met au service le l’Histoire; et le révolté c’est l’homme amoureux de la justice qui se met au service de l’esprit." (L’homme révolté)
Die französischen Kommunisten und die Anhänger Sartres nannten Camus daraufhin einen "mystique révolutionnaire", sie warfen ihm bürgerlich-humanistische Gesinnung und die Zementierung der bestehenden Verhältnisse vor.

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Leonore Zwölfer