SWR2 – Christa Wolf: Kassandra (Klassiker der Schullektüre)
Christa Wolf – Kurzbiografie
1929
geboren in Landsberg an der Warthe (heute polnisch), die Eltern führen ein Lebensmittelgeschäft, drei Jahre später folgt ein Bruder.
1945
Flucht in Etappen vor der anrückenden Sowjetarmee, die schließlich in einem mecklenburgischen Dorf endet.
1945/46
Schreibkraft im Bürgermeisteramt des Dorfes.
1946
Besuch der Oberschule, der bedingt durch die Kriegswirren abgebrochen worden war, wird fortgesetzt, jedoch bald schon wieder wegen Tuberkulose durch einen monatelangen Sanatoriumsaufenthalt unterbrochen.
1949
Abitur, Eintritt in die SED, Beginn des Germanistikstudiums.
1951
Heirat mit dem Kommilitonen Gerhard Wolf, mit dem sie eine lebenslange Liebes- und Arbeitsbeziehung führen wird.
1952
Geburt einer Tochter.
1953
Studienabschluss bei Prof. Hans Mayer, einer Koryphäe der DDR-Germanistik, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband (DSV).
1956
Cheflektorin des Verlages „Neues Leben“ in Berlin, Geburt der zweiten Tochter.
1958
Redakteurin der Zeitschrift „Neue deutsche Literatur“.
1959
Kontaktaufnahme durch das Ministerium für Staatssicherheit, dem die „geheime Informantin“ aber nicht die gewünschten Denunziationen liefert, weshalb die Stasi ihre Bemühungen nach wenigen Jahren einstellt. Umzug nach Halle an der Saale, Außenlektorin für den Mitteldeutschen Verlag, Mitarbeit in einer Waggonfabrik und Leitung eines Zirkels schreibender Arbeiter, Herausgabe einer Anthologie zeitgenössischer DDR-Literatur.
1961
Veröffentlichung der „Moskauer Novelle“: eine Auseinandersetzung mit der Schuldfrage anhand des Verhältnisses einer Deutschen zu einem russischen Kriegsbeschädigten, die Verfilmung durch Konrad Wolf scheitert aus politischen Gründen.
1963
Großer Erfolg beim Publikum und bei der Kritik mit „Der geteilte Himmel“ : eine junge Frau entscheidet sich unter Preisgabe einer Liebesbeziehung für das Leben innerhalb der neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung (Verfilmung durch Konrad Wolf). Kandidatin des Zentralkomitees der SED.
1964
Nationalpreis III. Klasse für Kunst und Literatur.
1967
Abschluss des Manuskripts von „Nachdenken über Christa T.“: ein Roman, mit dem Christa Wolf die Erinnerung an eine früh verstorbene Freundin festhalten will und - ausgehend von deren Persönlichkeit - Offenheit, Beweglichkeit und Lebendigkeit für das gesellschaftliche und das individuelle Leben einfordert. Dementsprechend muss die Autorin jahrelang um die Veröffentlichung kämpfen. „Juninachmittag“ erscheint. „Fräulein Schmetterling“ wird verboten. Ausscheiden aus dem Zentralkomitee nach einer kritischen Rede.
1968
Die Staatssicherheit legt in den folgenden Jahrzehnten unzählige Akten über die Überwachung des Ehepaars Wolf an.
1972
„Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen“.
1974
„Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten“.
1976
„Kindheitsmuster“: Christa Wolf befragt sich und die Gesellschaft nach dem Nachwirken faschistischer Denkmuster und Erlebnisinhalte. Gerhard Wolf wird aus der SED ausgeschlossen.
1979
„Kein Ort. Nirgends“ : Im Rahmen eines fiktiven Zusammentreffens der Seelenverwandten Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode artikuliert Christa Wolf das Leiden an einer Gesellschaft, die noch nicht reif für ausgebildete Individuen ist.
1983
Christa Wolfs erstes Antike-Projekt „Kassandra“ schildert die Ohnmacht und den Untergang der Seherin in einer männlich dominierten Welt, dazu erscheint: „Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung“: Poetik-Vorlesungen, 1982 gehalten an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
1986
„Die Dimension des Autors“.
1987
„Störfall“ : Christa Wolfs Reaktion auf die Umweltkatastrophe von Tschernobyl.
1989
„Sommerstück“: der Rückzug ins Private als bereichernde Erfahrung,. Austritt aus der SED, Mitglied der „Kommission zur Untersuchung der Polizei-Übergriffe am 7./8. Oktober in Berlin“, politische Reden und Interviews.
1990
„Was bleibt“: Veröffentlichung einer 1979 verfassten Auseinandersetzung mit ihrer Befindlichkeit angesichts der Stasi-Überwachung, in der Folge gerät Christa Wolf in den Mittelpunkt der öffentlichen Kritik.
1993
„Akteneinsicht Christa Wolf“ : die Veröffentlichung aller Stasi-Dokumente zu ihrer Person.
1996
„Medea. Stimmen“ : Neuerzählung des antiken Mythos mit dem Ziel, Medea als einer im Zusammenhang patriarchalischer Bemächtigung verfemten Gestalt gerecht zu werden.
2002
„Leibhaftig“: die Ich-Erzählerin erlebt den Zusammenbruch eines Systems am Beispiel ihres eigenen Körpers.
2003
„Ein Tag im Jahr 1960 – 2000“: Christa Wolfs Aufzeichnungen des 27. Septembers über vierzig Jahre verbinden Privates und Politisches, Dokumentation und Reflexion.
2010
„Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“: ein Auslandsaufenthalt zu Anfang der 1990er Jahre ermöglicht der Erzählerin, Abstand zu gewinnen von den politischen Umwälzungen und die mit diesen einhergehende Infragestellung ihrer Person zu verarbeiten.
2011
Tod in Berlin.
2013
posthum „Ein Tag im Jahr 2001 – 2011“.
Der geteilte Himmel
Die einundzwanzigjährige Rita Seidel liegt nach einem Betriebsunfall (mutmaßlicher Selbstmordversuch?!) im Jahre 1961 mehrere Monate im Krankenhaus und Sanatorium und erinnert sich an ihre Erlebnisse der letzten Jahre:
Rita lebte zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einem mitteldeutschen Dorf. Aus Geldmangel begann sie mit 17 Jahren in einem Versicherungsbüro zu arbeiten.
Im August 1959 begegnete sie beim Dorftanz dem zehn Jahre älteren Manfred Herrfurth aus Halle. Nach einem gemeinsamen Skiurlaub wurden die beiden ein Paar und zogen bereits im Frühjahr des folgenden Jahres gemeinsam in die Dachwohnung von Manfreds Elternhaus ein.
Während Manfred als Chemiker arbeitete, ließ sich Rita von Ernst Schwarzenbach, einem „Bevollmächtigten für Lehrerwerbung“, zu einem Studium ermutigen. Als Teil ihrer Ausbildung absolvierte Rita ein Praktikum bei der Brigade Ermisch im Waggonbauwerk Ammendorf.
Als eine von Manfreds Entwicklungen von den Parteifunktionären abgelehnt wurde, verlor Manfred endgültig den Glauben an das politische System der DDR und beschloss in den Westen zu gehen.
Bei ihrem Besuch im August 1961 versuchte Manfred Rita zu überreden bei ihm im Westen zu bleiben, doch Rita stand den Reformen in der DDR positiv gegenüber und fühlte sich in der westlichen Konsumgesellschaft nicht wohl. Sie gab ihre große Liebe auf und kehrte in die DDR zurück.
Nachdenken über Christa T.
Christa T. denkt zeitlebens sehr viel über sich selbst, ihr Leben sowie den Sinn des Lebens nach und versucht schreibend den Weg zu sich selbst zu finden. Nach ihrem Tod hinterlässt sie u.a. Aufzeichnungen und schriftstellerische Werke, anhand derer die Autorin und Freundin Christa Wolf versucht (sich) ein Bild von Christa T. zu zeichnen:
Die Ich-Erzählerin und Christa T. (von ihren Freunden auch Krischan genannt) lernen sich 1943 auf dem Gymnasium kennen und freunden sich an. Als sie 1945 vor der roten Armee flüchten müssen, setzt sich Christa T. in den Westen ab. Erst nach 7 Jahren treffen sich die Freundinnen an der Uni Leipzig beim Pädagogikstudium wieder.
In der Mensa lernt Christa T. Justus, einen Tierarzt kennen, den sie 1956 heiratet. Noch im selben Jahr wird die gemeinsame Tochter Anna geboren. Zu diesem Anlass besucht die Ich-Erzählerin Krischan im Krankenhaus, nachdem sie sich eine lange Zeit nicht mehr gesehen hatten.
Christa T. und Justus führen eine glückliche Ehe, aus welcher noch zwei weitere Kinder hervorgehen. Sie bauen sich ein Haus auf dem Land nahe einem See.
Durch ihren Mann lernt Christa T. einen jungen Jäger kennen, mit dem sie sich einen Seitensprung erlaubt. Doch statt sich zu trennen, schwängert Justus Krischan erneut. Kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes stirbt Christa T. im Alter von 35 Jahren an Leukämie.
Kein Ort. Nirgends.
In dieser Erzählung schildert Christa Wolf eine Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist, welche so in der Realität zwar nicht stattgefunden hat, aber durchaus hätte stattfinden können:
Juni 1804: Die beiden Schriftsteller Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist begegnen sich im Haus der Familie Brentano bei einem Treffen verschiedener Persönlichkeiten. Als die Gesellschaft einen Spaziergang unternimmt, separieren sich Günderrode und Kleist von den anderen und beginnen eine Unterhaltung über ihre Lebenssituation. Sie stellen fest, dass sie ähnliche Ansichten und Probleme haben: Beide betrachten sich als Außenseiter, sind einsam, heimat- und ruhelos, fühlen sich unverstanden und finden kein Glück in der Liebe.
Doch selbst als sie sich gegenseitig als „Seelenverwandte“ entdecken, ist beiden klar, dass sie am Ende alleine bleiben werden. Abrupt wird Kleist zu seiner Kutsche gerufen, die ihn zurück nach Mainz bringen soll.